Much love Anita

Anita Beckers, meine Galeristin, war eine Ausnahmegestalt im deutschen Kunstbetrieb. Vor sechs Wochen ist sie völlig unerwartet verstorben. Welch große Lücke sie hinterlässt, war in den letzten Tagen in Frankfurt deutlich zu spüren. Viele nannten sie „ihre Mutter im Kunstbetrieb“. Was sie besonders auszeichnete, war ihre Haltung, alle Menschen auf Augenhöhe zu behandeln – ganz gleich, ob es sich um den Getränkelieferanten oder einen millionenschweren Sammler handelte. Für sie stand immer der Mensch im Vordergrund. „Die Kunst ist der Kit, der alles zusammenhält“, sagte sie einmal. Ebenso prägte sie der Satz: „Es gibt keinen Grund, einen Tag im Leben nicht freundlich zu sein.“ Das waren keine Floskeln, sondern gelebte Haltung. So baute sie über die Jahre ein einzigartiges Netzwerk auf, förderte zahllose Künstlerinnen und Künstler, beriet, hörte zu und stellte Verbindung her – durch ihre Herzlichkeit.
Dass ich ausgerechnet jetzt, sechs Wochen nach diesem traurigen Ereignis, genau zur Eröffnung der Ausstellung Much Love Anita in Frankfurt angekommen bin, erscheint mir wie ein kaum fassbarer Zufall. Becky und ich hatten uns lange abgemüht, in Frankfurt eine Station für mein Projekt zu finden – ohne Erfolg. Fast frustrierend. Und nun war dieser Termin frei, als ob er dafür bestimmt gewesen wäre, dass mein Projekt genau in dieser Galerie stattfindet, um den Menschen dort nach diesem Verlust zuzuhören.
Anita habe ich 2014 in São Paulo kennengelernt, wo ich damals lebte. Ich schrieb sie an, als ich sah, dass sie auf der Kunstmesse einen Stand hatte, und bot meine Hilfe beim Aufbau an. Sie ging sofort darauf ein. Für mich, als Videokünstler, war es ein Glück, mit einer der bedeutendsten Galeristinnen für Videokunst – in Deutschland und international – in Kontakt zu kommen. Später sorgte sie dafür, dass ich in zahlreichen Ausstellungen vertreten war. Sie war für mich immer eine zentrale Anlaufstelle, wenn neue Projekte anstanden, und gab mir ihren Segen, gerade wenn die Ideen größer und herausfordernder wurden. Keine zwei Wochen vor ihrem Tod schrieb sie mir noch:
„…Ich wünsche Dir gutes Durchhaltevermögen und eine spirituelle Erfahrung. Ich beneide Dich, aber ich würde das nie schaffen…“

Als ich nun in Frankfurt zu Fuß ankam, führte mich mein erster Weg in die Galerie, um Nina Moessle, die neue Direktorin, kennenzulernen. Dort wollte ich besprechen, wie mein Projekt für drei Tage in die Ausstellung eingebunden werden könnte. Währenddessen installierte das Team eine Fotowand mit über 300 Bildern, viele davon von Anitas Handy. Obwohl ich nicht sprach, konnte ich mit einer kleinen Geste einen Beitrag leisten: Ich schlug vor, ein großes Porträt von Anita ins Zentrum zu hängen und die übrigen Fotos bunt überlappend darum anzuordnen. Es war bewegend, so an der Gestaltung beteiligt zu sein. Da noch viele Werke von insgesamt 63 Künstlerinnen und Künstlern gehängt werden mussten, half ich am nächsten Tag beim Aufbau – so, wie ich Anita einst kennengelernt hatte: indem ich Kunstwerke mit aufhängte. Ein passender Abschied.
Während der Vernissage saß ich mit zwei Stühlen direkt neben der Fotowand und hörte den Besucherinnen und Besuchern zu. Auf meinem Tischchen stand eine Box mit Taschentüchern – zunächst hielt ich das für übertrieben, doch im Laufe des Abends zeigte sich, wie notwendig sie war. Viele erzählten bewegende Geschichten über Anita, oft mit Tränen in den Augen. Auch mich rührte es zutiefst.
Eine unerwartete Beobachtung machte ich ebenfalls: Normalerweise empfinde ich große Menschenmengen, Vernissagen und Smalltalk als stressig. Früher trank ich dann ein oder zwei Bier, um lockerer zu werden. Seit ich keinen Alkohol mehr trinke, gehe ich solchen Veranstaltungen oft aus dem Weg. Doch an diesem Abend war es anders. Ich musste mit niemandem sprechen, konnte einfach da sein. Alle Selbstzweifel, Erwartungen und Bewertungen, die sonst in mir kreisten, fielen von mir ab. Wer mir etwas erzählen wollte, kam zu mir. Wer nicht, ließ es bleiben. Und genau diese Entspanntheit hat vielleicht dazu beigetragen, dass sich viele geöffnet haben.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich – gerade weil ich schweige – in eine tiefe Verbindung mit den Menschen kam, die sich auf eine Begegnung mit mir einließen. Smalltalk spielte dabei kaum eine Rolle. Studien zeigen, dass Menschen, die regelmäßig wirklich zuhören und sich selbst öffnen und dadurch in eine echte Verbindung mit ihrem Gegenüber treten, ihr Stresslevel deutlich senken können. In solchen tiefen Verbindungen war ich an diesem Abend und in den letzten Wochen immer wieder. Vielleicht trägt genau das dazu bei, dass sich dieses Gefühl von Ruhe und Entspanntheit mehr und mehr in mir ausbreitet. Auch Anita war eine wahre Meisterin darin, mit Menschen in Verbindung zu gehen. Viele haben davon profitiert.
Am Samstag und Sonntag war die Galerie im Rahmen des Frankfurter Galerienwochenendes geöffnet. Hier war viel Laufpublikum unterwegs, das sich weniger auf meine Performance einließ. Dafür konnte ich Nina und Isabell zuhören, die in den vergangenen Wochen unzähligen Menschen begegnet waren, die ihr Beileid bekundeten und Erinnerungen an Anita teilten. Nun konnte ich für sie das tun, was sie selbst so lange getan hatten: zuhören.
Den beiden wünsche ich für die Zukunft der Galerie alles Gute. Sie treten in große Fußstapfen – doch ich habe in diesen Tagen gespürt, dass sie von Anita mehr gelernt haben, als nur das Galerienhandwerk. Ihr Geist und ihre Menschlichkeit werden weiterleben.
