
Zwischen Bremen und Hamburg liegen etwa 130 Kilometer, die sich gut in sechs bis sieben Tagen erwandern lassen. Ich hatte dieses Mal jedoch das große Glück, sie nicht am Stück gehen zu müssen, denn auf dieser Strecke gab es für mich zwei besondere Zwischenstopps. Zuerst habe ich mich mit Flavia bei einer Freundin getroffen, die wir schon lange besuchen wollten. Danach führte mich der Weg über Buxtehude nach Hamburg, wo ich bei Jana Halt machen durfte, meiner MBCL-Ausbilderin. MBCL steht für Mindfulness Based Compassionate Living und bedeutet so viel wie achtsam und mitfühlend leben. Es ist ein achtwöchiges Trainingsprogramm, das Menschen dabei unterstützt, freundlicher mit sich selbst umzugehen, innere Kritiker abzubauen und mehr Fürsorge, Verbundenheit und Güte in ihr Leben zu integrieren. Viele Übungen stammen aus der Achtsamkeitsforschung, der Mitgefühlspraxis und der Psychologie und können im Alltag spürbar entlasten.
Obwohl Jana schon viele Schweigeretreats besucht hat und wir uns aus drei Kursen gut kennen, war sie im Vorfeld etwas nervös, wie sie mir gestand. Es ist eben etwas anderes, wenn plötzlich jemand schweigend für zwei Tage in den eigenen Alltag tritt. Diese Anspannung verflog jedoch schnell, als sie merkte, dass trotz meines Schweigens ein natürlicher Austausch möglich war. Wir begegneten uns nicht als Lehrerin und Schüler, sondern als zwei Menschen, die ähnliche Werte teilen und beide versuchen, Achtsamkeit und Mitgefühl nicht nur zu lehren, sondern auch im eigenen Leben zu verankern.
Wir tauschten uns intensiv aus. Mein Mini-Tablet füllte sich mit vielen Notizen, weil ich mich trotz meines Schweigens in diesen wertvollen und ergiebigen Dialog einbringen wollte. Es gäbe vieles, was ich daraus erzählen könnte, aber vielleicht fasst es eine kleine Anekdote über Janas Spülmaschine besser zusammen:
Wie bei fast allen Besuchen wollte ich mich nicht einfach nur ausruhen, sondern mich für die Gastfreundschaft erkenntlich zeigen und etwas mithelfen. Als ich in der Küche meine Unterstützung anbot, winkte Jana jedoch ab. Sie sei fast fertig, meinte sie, und die größte Hilfe habe ohnehin schon die beste Mitarbeiterin im Haus geleistet: die Spülmaschine. Sie erzählte mir lachend, wie dankbar sie für dieses Gerät sei, wie zuverlässig es arbeite und wie sehr es ihren Alltag erleichtere. Und sie bedankte sich sogar ausdrücklich bei der Maschine für ihren großartigen Job.
Wenn man selbst nicht spricht und die Aufmerksamkeit ganz beim Zuhören liegt, nimmt man die eigenen Gedanken mit besonderer Klarheit wahr. Als Jana von ihrer Dankbarkeit für die Spülmaschine erzählte und sich auch noch bei ihr bedankte, tauchte bei mir sofort der Gedanke auf: „Dankbarkeit ist ja gut, aber irgendwo hat das doch Grenzen. Bei einer Spülmaschine braucht man sich ja nun wirklich nicht zu bedanken.“ Eine spontane Bewertung, die schnell zeigte, welche alten Gedankenmuster da in mir noch wirksam sind.
Dankbarkeit spielt in der Achtsamkeits- und Mitgefühlspraxis, die wir beide unterrichten, eine zentrale Rolle. Und auch die Forschung bestätigt, dass Menschen, die Dankbarkeit im Alltag kultivieren, mit Herausforderungen besser umgehen und insgesamt zufriedener sind. Dabei geht es selten um große Ereignisse. Dankbar sein können wir auch für die kleinen Dinge: ein gutes Gespräch, den ersten Kaffee des Tages, die Möglichkeit, morgens aufzustehen und weiterzugehen.
Dass mir Janas Dankbarkeit für eine Spülmaschine zunächst übertrieben vorkam, hat mich nachdenklich gemacht. Besonders, weil ich selbst fünf Jahre in Brasilien gelebt habe, wo viele Haushalte bis heute von Hand abspülen und auch ich das tun musste. Damals habe ich dieses Gerät oft vermisst und war unglaublich dankbar, als ich nach dem Umzug nach Deutschland eine geschenkte Spülmaschine anschließen konnte. Diese Erinnerung war längst verblasst. Die Selbstverständlichkeit hatte die Dankbarkeit verschluckt. Heute ertappe ich mich manchmal sogar dabei, mich zu ärgern, dass ich sie ein- und ausräumen muss und immer noch ein kleiner Teil der Arbeit an mir hängen bleibt.
Jetzt, unterwegs mit Rucksack und Nächten im Zelt bei Minusgraden, bekommt vieles wieder ein anderes Gewicht. Wenn ich irgendwo zu Gast bin, schätze ich die Heizung, die heiße Dusche, die Waschmaschine, ein warmes Essen und die Gastfreundschaft der Menschen in einer Tiefe, die mich berührt. All diese Dinge lassen die Entbehrungen sofort kleiner wirken und erfüllen mich mit echter Dankbarkeit.
Mir geht es nicht darum, dass man erst schwierige Situationen erleben muss, um Dankbarkeit zu spüren. Oft reicht es schon, den Blick wieder zu weiten und wahrzunehmen, was wir alles besitzen und was unseren Alltag erleichtert. Statt ständig zu sehen, was fehlt oder was noch sein müsste, damit man irgendwann glücklich werden könnte.
Dankbarkeit lässt sich kultivieren. Ein einfaches Journal oder Tagebuch am Abend kann helfen, den Tag zu reflektieren und sich an die kleinen guten Momente zu erinnern. Mit der Zeit werden diese Kostbarkeiten sichtbarer, und Dankbarkeit stellt sich fast von selbst ein.
Und ja, man kann auch einer Spülmaschine dankbar sein. Wenn man erkennt, wie sehr sie den Alltag erleichtert, ist dieser Gedanke keineswegs übertrieben. In dieser Hinsicht habe ich von Jana etwas gelernt. Eine leise, aber wertvolle Erinnerung, die ich mit auf meinen Weg nehme und später hoffentlich wieder in meinen Alltag integrieren kann.




















