Tag 115 – Unterwegs mit Manuel

Manuel hatte sich schon vor einigen Wochen bei mir gemeldet. Er schrieb, dass ich bei ihm willkommen sei, falls mein Weg an seinem Zuhause nördlich von Duisburg vorbeiführen würde – oder dass er mich gerne ein Stück begleiten möchte. Er hatte von seiner Ex-Frau von meinem Projekt gehört, die ihm sagte, dass es ihm bestimmt gefallen würde.
Er ist Künstler und Dokumentarfilmer, hat – wie ich – lange Zeit in Brasilien gelebt und interessiert sich für Kunstprojekte, die unterwegs entstehen. Es gab also von Anfang an viele Gemeinsamkeiten, die uns auf verschiedenen Ebenen verbanden.
Da ein Abstecher zu ihm zu weit nach Westen geführt hätte, verabredeten wir uns stattdessen für einen gemeinsamen Wandertag. Der Treffpunkt lag etwas außerhalb von Castrop-Rauxel, auf einer Wiese am Waldrand, deren Koordinaten ich ihm geschickt hatte, um den Umweg durch die Stadt zu vermeiden. Als ich dort gegen neun Uhr ankam, saß Manuel bereits entspannt auf seinem Regencape und frühstückte. Wir begrüßten uns kurz – dann gingen wir los, um an diesem Tag den Ruhrpott hinter uns zu lassen.
Die ersten Kilometer schwiegen wir. Ich bemerkte, dass sein Blick immer wieder in die Ferne glitt. Zunächst dachte ich, er würde sich auf entfernte Dinge konzentrieren – bis ich merkte, dass sich sein Blick in der Weite verlor, so wie andere Menschen beim Nachdenken auf den Boden schauen. Diese Form des Abschweifens war mir neu.
Nach etwas mehr als einer Stunde, als wir die Stadt und die Ausläufer des Ruhrgebiets hinter uns ließen und auf Wiesen und Felder trafen, machten wir eine Pause. Ich reichte ihm den Redestab, und er begann zu erzählen:
Von seinen Filmprojekten.
Von seinem Versuch, sich in Brasilien eine neue Existenz aufzubauen – eine Hoffnung, die durch die Pandemie zerbrach.
Von der Trennung von seiner Frau.
Und von einem Burnout, von dem er sich bis heute nicht richtig erholt hat.
Er sprach über seine Zweifel: ob es in einer Welt, in der jeder mit KI-Prompts einen Film machen kann und die von Bildern überflutet ist, überhaupt noch neue Bilder braucht. Ob es überhaupt noch seine Aufgabe sei, welche zu schaffen. Und wie man als Künstler existieren kann in einer Welt, in der die Lautesten die größte Aufmerksamkeit bekommen, wenn man selbst gar keine Lust mehr hat, laut zu werden.
Mit der Zeit wurde klar, dass Manuel vor allem eines suchte: Ruhe. Ein Ankommen. Seit er zum Studium nach Den Haag gezogen war, hatte er immer das Gefühl, nur auf einer Zwischenstation zu sein. Irgendwann wollte er nach Brasilien zurück – doch das Leben kam dazwischen. Eine Tochter wurde geboren – ein wunderbares Mädchen, wie er betonte –, obwohl er nie einen großen Kinderwunsch hatte. So pendelt er heute zwischen zwei Welten: zwischen der Verantwortung als Vater in den Niederlanden und einem Haus an den Rheinauen, das er mit seiner neuen Partnerin teilt – einem Ort, den er sich immer gewünscht hat. Doch wirklich ankommen kann er dort durch dieses zweigeteilte Leben noch immer nicht.
In vielem, was Manuel erzählte, erkannte ich mich selbst wieder. Dieses ständige Unterwegssein, die Sehnsucht, irgendwann einmal „anzukommen“. Der Glaube, dass das nächste Projekt alles verändern würde. Dass, wenn man nur endlich „da“ ist – auf der Documenta, der Biennale, im Museum – danach Ruhe einkehrt.
Ich kenne diesen Kreislauf nur zu gut. Und auch ich bin irgendwann vor vielen Jahren daran ausgebrannt.
Es ist wie der Esel, der der Karotte hinterherläuft, ohne sie je zu erreichen. Immer wenn man denkt, man sei ganz nah dran, rückt sie ein Stück weiter nach vorn – und man rennt weiter, müde, aber getrieben.
Während Manuel sprach, wurde mir bewusst, dass uns beide dieses Rastlose verbindet – und dass es vielleicht eines der großen Themen unserer Zeit ist:
Wir rennen Träumen hinterher. Wir glauben, dass es uns gut gehen wird, wenn wir das Haus gebaut, die Beförderung bekommen oder endlich genug verdient haben. Aber wir sind nie wirklich da.
Während der Arbeit denken wir an den Feierabend, während des Feierabends an die Arbeit. Beim Spielen mit den Kindern planen wir das Wochenende, und in der Freizeit schauen wir, was die anderen in den sozialen Medien machen. Wir leben in der Zukunft oder in der Vergangenheit – aber kaum im Jetzt.
Und doch merkte ich, während Manuel sprach, dass ich in den letzten Wochen selbst immer öfter ankomme – obwohl ich ja ständig unterwegs bin.
Ankommen bedeutet für mich nicht, irgendwo sesshaft zu werden. Es bedeutet, im gegenwärtigen Moment anzukommen: in Verbindung mit mir selbst, mit den Menschen, denen ich begegne, und mit der Natur. Das gelingt mir nicht immer – aber immer öfter. Und auch in diesem Moment, während Manuel sprach und ich ihm einfach zuhörte, war ich ganz da.
Der bevorstehende Winter macht mir Sorgen, aber wenn ich jetzt die Farben des Herbstes sehe, fühle ich mich angekommen.
Ankommen heißt nicht, keine Ziele mehr zu haben. Meine nächsten sind Bremen, Hamburg – und Berlin, wo die Halbzeit meines Projekts ansteht. Aber es geht nicht um das Ziel, sondern um den Weg dorthin: um die Begegnungen, die Landschaften, die Stille – um den gegenwärtigen Moment in jedem Schritt aufs Neue zu erfahren und dabei anzukommen.
Als wir am Abend in Olfen bei Tee und Kuchen Abschied nahmen, hatte sich etwas verändert. Manuel wirkte gelöster, aufmerksamer, lebendiger.
Obwohl er müde war, lag in seinen Augen ein Leuchten. Denn es blieb nicht bei den Schwierigkeiten aus seinem Leben – im Erzählen fügten sich auch Dinge zusammen, die ihm zeigten, dass er auf einem guten Weg ist, nur eben noch nicht klar ist, wohin dieser führt.
Wir waren beide dankbar – er für mein Zuhören, und ich für das, was mir dieser Tag über mich selbst gezeigt hat.













