Tag 116 – Am Dortmund-Ems-Kanal – Maria

Als ich Maria am Dortmund-Ems-Kanal an einer Brücke traf, geschah das ganz ohne Worte. Wir liefen fast zwei Stunden schweigend nebeneinander her, ehe sie von der Möglichkeit Gebrauch machte, mir etwas zu erzählen.
Maria, eine sehr erfahrene Pilgerin, wollte mit mir draußen übernachten. Ich hatte nichts dagegen – doch solche Begegnungen sind immer spannend, weil ich nie weiß, wie gut jemand ausgerüstet ist oder wie viel Erfahrung er oder sie wirklich mitbringt. Da ich nicht spreche, kann das in schwierigen Situationen schnell kompliziert werden. Es bleibt ein Wagnis, und ich vertraue einfach darauf, dass die Menschen, die sich auf so eine Erfahrung einlassen, sich dessen bewusst sind – und wir gemeinsam Wege finden. Mit Maria hatte ich nicht einen Moment, in dem ich das Gefühl hatte, es könnte schwierig werden.
Nachdem wir zum ersten Mal etwas kommuniziert hatten, schrieb ich ihr, dass ich es mutig finde, mit mir im Herbst zwei Tage zu wandern und bei mäßigem Wetter im Wald zu zelten.
Sie antwortete nur: „Kinderbekommen ist viel mutiger. Das ist ja nur eine Nacht.“
Zuerst war ich verblüfft – dann habe ich sie innerlich gefeiert. Wie recht sie hat. Kinder zu bekommen ist wohl eines der größten Abenteuer unseres Lebens. Wer das meistert, kann den kleineren Herausforderungen, die das Leben bereithält, gelassen begegnen. Ich wünschte, mehr Eltern – vor allem Mütter – könnten dieses Bewusstsein kultivieren. Denn im Vergleich dazu ist eine Nacht mit einem Schweigenden im Zelt wirklich Pipifax.
Maria erzählte, dass sie schon früh wusste, dass Pilgern „ihr Ding“ sei – doch da hatte sie gerade Kinder bekommen. Zwanzig Jahre musste sie warten, bis sie losziehen konnte. Dann ging sie allein, ohne große Vorbereitung, von ihrer Haustür bei Düsseldorf in 4 1/2 Monaten bis nach Santiago – 3.000 Kilometer. Inzwischen ist sie auch von der polnischen Grenze bis nach Hause gepilgert und hat große Teile des Baltikums durchwandert. Nur Polen fehlt noch, dann ist sie einmal quer durch Europa gegangen – bis nach Finisterre, dem „Ende der Welt“.
Maria beschreibt sich als Herzens-Pilgerin – auch im Alltag. Als ich sie um ihre Erlaubnis bat, diesen Text über sie veröffentlichen zu dürfen, hat sie mir nicht nur zugestimmt, sondern ihn noch um eine Liste ergänzt – Gedanken darüber, was das Pilgern für sie heute bedeutet.
Für Maria heißt Pilgern:
– die Welt in ihrer Vielfalt und Schönheit zu entdecken, besonders die Natur
– zu erfahren, dass fast alle Menschen gut und hilfsbereit sind
– zu erkennen, dass die Welt nicht so schlimm ist, wie sie in den Nachrichten erscheint
– sich überall geborgen zu fühlen, weil Geborgenheit in der eigenen Seele wohnt
– im Gottvertrauen, in Dankbarkeit und Zuversicht
– dem eigenen inneren Impuls zu folgen und auf geistige Kräfte zu vertrauen
– zu wissen, dass man zum Glücklichsein nicht mehr braucht, als man tragen kann
– in der Begegnung mit Menschen Antipathie und Sympathie zu überwinden und überall offene Herzen zu finden
– im Strom der Zeit verbunden zu sein mit all den Pilgerinnen und Pilgern vor und nach uns
– den eigenen Wert neu zu begreifen und zu lernen, zu leben, ohne materiellen Nutzen bringen zu müssen
– und nicht müde zu werden, von der Schönheit der Welt und der wohlwollenden göttlichen Hilfe zu erzählen, die uns Schritt für Schritt begleitet.
All dem kann ich nur zustimmen. Seit ich vor vier Monaten losgezogen bin, ist mir kein Mensch begegnet, der mir etwas Böses wollte. Ich bin durch wunderschöne Landschaften gewandert, kam mit weniger als 400 Euro im Monat aus – und hatte prägende, berührende Momente. Alles, was ich besitze, trage ich auf meinem Rücken: rund 20 Kilogramm – eigentlich zu viel, aber meinem Kunstprojekt geschuldet. Auch ich wachse immer mehr in mein Vertrauen – in mich, in das Leben.
Maria ist inzwischen neunfache Großmutter und pilgert mit ihren ältesten Enkeln – z. B. bis zu 16 Kilometer auf dem Mosel-Jakobsweg. Sie möchte ihnen früh vermitteln, wie man dem Leben als Pilgerin begegnet. Die Kinder lieben es.
Am Abend bauten wir unsere Zelte auf einer kleinen Lichtung auf, direkt neben einem Hochsitz. Dort tranken wir Tee und blickten in die Dämmerung. Maria erzählte von ihren Enkeln, die ihr so ans Herz gewachsen sind, von ihrem Leben und von Momenten, die sie besonders geprägt haben. Irgendwann sahen wir uns einfach nur an. Es war still, tief, vertraut. Es gibt nur wenige Menschen, mit denen man so lange schweigend in Kontakt bleiben kann.
Und Maria beschenkte mich noch weit über ihre tiefen Erzählungen und die gemeinsame Zeit hinaus. Sie hatte einen kleinen Zettel vorbereitet, auf dem bis nach Osnabrück sämtliche Übernachtungsmöglichkeiten für Pilger aufgeführt waren. Da ich meinem Weg bis Hamburg weitgehend dem Jakobsweg folgen kann, eröffnen sich dadurch viele weitere Optionen – oft einfache Quartiere, die nur gegen eine Spende angeboten werden. Vor allem aber bedeutet das, wieder auf Menschen zu treffen, Begegnungen zu erleben, bei denen ich nie weiß, was mich erwartet. Und so ergeben sich nun vielleicht auch für die nächsten drei bis vier Wochen, selbst in dieser nass-feuchten Jahreszeit, warme Unterkünfte. Darüber habe ich mich unglaublich gefreut.
Am nächsten Morgen meditierten wir auf dem Hochsitz eine Stunde im ersten Licht des Tages. Dann packten wir unsere Sachen und liefen weiter. An einem kleinen Moorsee wollte ich ihr schriftlich vorschlagen, dort zu frühstücken – genau in dem Moment, als sie mir dieselbe Idee äußerte.
Während des Frühstücks fragte ich sie, warum sie ihren Mann bisher nie erwähnt hatte. Sie sagte, er sei an Krebs gestorben – und dort, wo er jetzt sei, gehe es ihm sehr gut. Auf meine Frage, ob sie vor oder nach seinem Tod zu pilgern begonnen habe, antwortete sie: vor seinem Tod. Es sei das größte Geschenk gewesen, das er ihr machen konnte. Denn er war bereits krank, als sie losging, und ermöglichte ihr diese Reise, indem er ihre an Demenz erkrankte Mutter trotz eigener Krankheit mitbetreute.
Was für eine Größe – jemanden ziehen zu lassen, gerade dann, wenn man ihn wahrscheinlich am meisten braucht. Ich war so tief berührt, dass mir die Tränen kamen.
Später beim Weitergehen begriff ich, warum mich diese Geschichte so bewegte: Weil auch Flavia mich – trotz all ihrer Sorgen und Ängste – hat ziehen lassen. Jemanden gehen zu lassen kann Verlust bedeuten – und zugleich das größte Geschenk sein, das man machen kann. In diesem Moment fühlte ich mich zutiefst beschenkt von Flavia, die mir diese Reise ermöglicht hat, indem sie mich gehen ließ.
