Tag 111–112 – Auf dem Örkhof

Als ich nach drei Tagen durch das Bergische Land, von Leverkusen herkommend, dem Örkhof näherkam, spürte ich auf den letzten Metern wieder dieses Gefühl der Unsicherheit, das mich oft erfasst, wenn ich auf dieser Wanderung an einem fremden Ort ankomme, an dem ich niemanden kenne.
Wie werden sie auf mich reagieren, wenn ich nicht spreche? Wissen alle über mein Kommen Bescheid? Was denken sie über mich und mein Projekt?
Manchmal denke ich in solchen Momenten: Wäre es nicht einfacher, einfach weiterzugehen – in den nächsten Wald, das Zelt aufzuschlagen und bei mir zu bleiben? Ein Kopfkino, das denselben Film von Unsicherheit immer wieder abspielt. Doch ich weiß inzwischen, dass ich mich in solchen Situationen immer wieder überwinden, meine Komfortzone verlassen muss – im Vertrauen darauf, dass auch dieses Mal wieder alles gut wird. Und wenn nicht, bleibt es zumindest eine Erfahrung, die mich auf ihre Weise bereichert.
Als ich den Hof erreichte, herrschte reges Treiben: Kinder spielten, Menschen kamen und gingen, überall Bewegung. Man wusste zwar, dass ich komme und dass ich nicht spreche, doch es war unklar, wo ich untergebracht werden sollte. Der vorgesehene Raum war noch Baustelle – ein neuer Heizkörper wurde eingebaut. Für einen Moment war ich überfordert, und ich glaube, den anderen ging es ähnlich. Doch nachdem klar war, wo ich schlafen konnte, legte sich die Aufregung.
Zurück blieb Manuel, der den Raum für mich herrichtete. Er war neugierig, wie es mir mit dem Schweigen geht, und hätte mir gerne viele Fragen gestellt. Ich bat ihn, mir stattdessen etwas über den Hof zu erzählen, damit ich etwas besser weiß, wo ich hier gelandet bin.
Der Örkhof, erklärte er mir, existiert schon lange als biodynamischer Bauernhof. Seit die Gründer in den Ruhestand gegangen sind, wird er von einem Verein getragen, der aus drei Familien besteht, die den Hof gemeinsam bewirtschaften. Dazu kommen Knechte, Lehrlinge, Praktikantinnen und Jugendliche im freiwilligen sozialen Jahr – und mindestens zehn Kinder aus den Familien. Der Hof ist nicht nur ein landwirtschaftlicher Betrieb, sondern zugleich auch irgendwie ein soziales Wohn- und Arbeitsprojekt.
Die Produkte werden direkt auf dem Markt und im eigenen Hofladen verkauft; rund 75 Prozent stammen aus Eigenanbau, der Rest wird zugekauft. „Es ist kein leichtes Leben“, sagte Manuel. Die Gemeinschaft sei „sehr dynamisch“ – viele Menschen, viele Aufgaben, gemeinsam Entscheidungen treffen, ein ständiges Austarieren zwischen Idealismus und wirtschaftlicher Realität. Die Gehälter sind nicht sehr hoch, doch Unterkunft und Verpflegung – alles in bester Demeter-Qualität – frei. Rechnet man das zusammen, bleibt ungefähr so viel übrig wie bei einem einfachen Job in der Stadt, nur dass hier die Lebenshaltungskosten fast verschwinden.
Manuel lebt seit 16 Jahren auf dem Hof – länger als alle anderen. Seine Ruhe und Gelassenheit verraten, dass er schon einiges erlebt hat. Er gehört zu jenen Menschen, bei denen man sofort spürt, dass eine tiefe Verbindung möglich ist.
Am nächsten Morgen stand ich kurz nach sechs auf, weil Manuel mich eingeladen hatte, am „Halleluja“ teilzunehmen – einer 15-minütigen Eurythmie-Übung im Garten. Wir standen zunächst in Stille, beobachteten die Morgendämmerung, lauschten dem beginnenden Tag. Dann begann Manuel mit fließenden Bewegungen die Eurythmie, während ich still danebenstand und die Atmosphäre des Morgens in mich aufnahm.
Um acht Uhr gab es Frühstück mit Manuels Familie und einigen Hofbewohnern. Zum ersten Mal kam ich richtig mit der Gemeinschaft in Kontakt. Ich hatte meine Projektflyer dabei, und Manuel erzählte, dass ich ihn am Abend zuvor gebeten hatte, mir etwas über den Hof zu erzählen. Er griff das auf und fragte in die Runde, was dieser Ort für jeden Einzelnen bedeute.
Zuerst herrschte Schweigen, bis Pia, Manuels Frau, anfing zu erzählen. Der Örkhof, sagte sie, sei einerseits eine Arbeitsgemeinschaft, andererseits ein soziales Projekt. Besonders berührte mich, was sie über ihre Haltung zur Landwirtschaft sagte:
Dass sie hier versuchen, eine Landwirtschaft zu betreiben, die den Tieren und Pflanzen gerecht wird. Draußen in der Welt gehe es um Ertrag, Effizienz und Gewinn – hier gehe es darum, sich als Teil der Natur zu sehen und gesunde, nachhaltige Lebensmittel herzustellen. Es ist ein Gegenentwurf zu einer globalen Entwicklung, der sich wirtschaftlich nur schwer durchhalten lässt – möglich nur durch Idealismus und den Verzicht auf vieles, was sonst selbstverständlich scheint.
Eine weitere Geschichte blieb mir besonders in Erinnerung: Der Hof liegt an einem Hang, was die Bewirtschaftung erschwert. Wachstum im klassischen Sinne ist kaum möglich. Einer der Gründer sah genau darin die Qualität des Ortes: „Anstatt immer größer zu werden, müssen wir innerlich wachsen.“ Nicht mehr produzieren, sondern besser. Diese Haltung prägt den Hof bis heute. In einer Welt, in der alles auf Wachstum und Gewinn ausgerichtet ist, hat mich das tief beeindruckt.
Ich war als Gast eingeladen, aber ich wollte etwas zurückgeben und bot an, einen Tag mitzuhelfen. Sie nahmen das dankbar an. Ich schnitt Brombeerhecken zurück, räumte Beete ab, half beim Aufräumen – und war am Abend so erschöpft wie nach einem langen Wandertag, aber glücklich. Durch das gemeinsame Arbeiten kam ich den Menschen auf eine ganz andere Weise nahe.
Beim letzten Frühstück mit Manuel und Pia erzählten sie mir, dass sie bestimmte Samen von Pflanzen beim Keimen, etwa die von Tomaten, auch mit Eurythmie „behandeln“, um deren Energie als Nachtschattengewächs für uns Menschen bekömmlicher zu machen. Viele ihrer Gedanken ermöglichten mir Einblicke in eine Welt, die mir bis dahin fremd war. Ich werde dadurch sicher kein überzeugter Anhänger Rudolf Steiners, aber durch das Zuhören – ohne vorschnell zu bewerten – konnte ich einen wertvollen Einblick in diese Denkweise gewinnen.
Vor allem aber habe ich Menschen kennengelernt, die mir in kurzer Zeit sehr ans Herz gewachsen sind – mit großem Respekt vor ihrem Idealismus und ihrer Lebensweise, die für unsere Umwelt, unendlich viel bekömmlicher ist als das, was in den meisten Agrarbetrieben geschieht.
Als ich mich nach herzlichen Umarmungen wieder auf den Weg machte, war ich erfüllt von Dankbarkeit darüber, dass es Orte gibt, an denen „Wachstum“ etwas ganz anderes bedeutet.

