Tag 108 – Leverkusen - Frust und Zweifel

Von Köln bin ich weiter nach Leverkusen gezogen.
Dort hatte sich kurzfristig eine Gemeinde gemeldet, die mir eine Unterkunft anbot – in einem Jugendtreff der katholischen Kirche. Während meiner Anwesenheit fanden dort keine Aktivitäten statt, ich konnte die Küche, das Bad nutzen und auf dem Sofa schlafen. Für Sonntagabend war ein Jugendgottesdienst geplant, bei dem meine Anwesenheit angekündigt werden sollte. Nach dem Gottesdienst, so die Idee, könnten alle, die wollten, mit mir in Stille in der Kirche sitzen bleiben oder mir etwas erzählen.
Ich war gespannt, ob so etwas Spontanes überhaupt funktionieren konnte.
Bisher war an fast allen Stationen im Vorfeld Öffentlichkeitsarbeit gelaufen – hier nicht. Der Generalvikar hatte die Jugendlichen lediglich informiert und am Ende des Gottesdienstes ein paar Sätze über mein Projekt gesagt.
Die Kirche war zu meinem Erstaunen recht gut gefüllt. Als sie sich leerte, blieben einige Jugendliche still sitzen. Nach zwanzig Minuten waren es noch drei. Dann zwei. Schließlich saß ich mit einem Jungen allein in der Kirche, getrennt durch einige Reihen von Kirchenbänken. Nach vierzig Minuten stand auch er auf und ging.
Erzählt hat mir an diesem Abend niemand etwas.
Und doch war ich berührt. Was bewegt einen Jugendlichen, vierzig Minuten lang in Stille in einer Kirche zu sitzen?
Aus meinen Meditationskursen weiß ich, wie herausfordernd das für viele ist. Als der Generalvikar nach einer Stunde zurückkam und ich ihm mit wenigen notierten Sätzen davon erzählte, war er sichtlich bewegt. Er meinte, es habe wohl mit meiner Ruhe und Ausstrahlung zu tun.
So schön es war, eine Stunde in einer großen Kirche zu meditieren – und so dankbar ich für diese stille Begegnung war –, blieb doch eine gewisse Enttäuschung. Niemand hatte sich zu mir gesetzt, niemand erzählt. Vielleicht lag meine trübe Stimmung aber auch an den Absagen der letzten Tage, an meinen Erwartungen, dass alles so weitergehen würde wie an den ersten Stationen.
Am nächsten Morgen kam dann die nächste enttäuschende Nachricht:
Die Institution in Essen, die für das kommende Wochenende eine Station geplant hatte, musste absagen – sie konnten doch keine Unterkunft für mich bereitstellen. Nach den Absagen in Köln und Düsseldorf eine weitere innerhalb weniger Tage. Ich hatte meine Route extra geändert, um über Essen nach Norden zu gehen, anstatt über Düsseldorf. Dafür hatte ich private Einladungen abgesagt. In den letzten zwei Wochen habe ich fast täglich umgeplant, was viel Zeit und Energie kostet. Und nun: wieder nichts.
Auch die weiteren Orte, an die wir geschrieben hatten – Münster, Bremen, Hamburg – schickten nur Absagen. Viele freundlich formuliert, gut begründet, und doch: Absagen.
Es wurde herbstlich, das Wetter grau und trüb, meine Stimmung auf einem Tiefpunkt. Alles kündete an, dass nun die dunkle, kalte Jahreszeit bevorstand – und plötzlich schien nichts mehr zu funktionieren, was in den ersten Monaten so leicht und selbstverständlich gegangen war.
Und es kam noch etwas härter.
Die Verantwortliche in Leverkusen konnte auf die Schnelle nichts mehr organisieren, was mich direkt mit Menschen in Kontakt gebracht hätte. Sie schlug vor, ich könne mich einfach mit meinem Schild auf eine Bank vor der Kirche oder in die Fußgängerzone setzen – dort, wo viele ältere Menschen aus den nahegelegenen Altenheimen vorbeikämen.
Es war ein kalter, grauer, feuchter und windiger Tag mit kaum 13 Grad. Die gefühlte Temperatur lag deutlich darunter. Trotzdem wollte ich es versuchen. Nicht aufgeben, nicht einfach in der Unterkunft bleiben. Ich zog alle warmen Sachen an, setzte mich auf die Bank – und wartete. Zwei Stunden lang. Niemand blieb stehen, niemand setzte sich. Bei diesem Wetter konnte ich es auch niemandem verübeln.
Ich versuchte, eine Übung daraus zu machen – eine Meditation im öffentlichen Raum.
Ich spürte den Widerstand, den Frust, die Kälte – und versuchte immer wieder, all das loszulassen und den Menschen, die vorbeigingen, trotzdem mit einem offenen, freundlichen und vor allem einladenden Blick zu begegnen. So wie man in einer langen Meditation den Rückenschmerz spürt, ihn wahrnimmt, ihn ziehen lässt, wan an manchen Tagen sehr schwierig sein kann
Und dann, genau in dem Moment, als ich in meine Unterkunft zurück gehen wollte, blieb ein alter Mann stehen.
„Ich habe schon viel gesehen“, sagte er, „aber noch nie jemanden, der einfach nur zuhören will. Das finde ich interessant!“
Er setzte sich. Anderthalb Stunden blieb er – und auch das war wieder eine Herausforderung.
Er redete viel, anfangs Sätze und Geschichten, die er wohl schon oft in seinem Leben zum Besten gegeben hatte. Manches wiederholte sich, vielleicht litt er an einer beginnenden Demenz. Doch im Laufe des Gesprächs wurde sein Blick klarer. Er begann, auf mich Bezug zu nehmen, sprach über das Zuhören, darüber, dass ihn das beschäftige, dass er nun etwas habe, worüber er nachdenken könne.
Als wir uns verabschiedeten, war ich durchgefroren, erschöpft – und zugleich erleichtert.
Es war kein Tag der großen Begegnungen, eher ein Tag der Prüfungen. Aber vielleicht war genau das die Lektion die ich vor dem Winter gebraucht habe: loslassen, aushalten, offen bleiben.
Denn es werden sicher nicht die letzten Herausforderungen dieser Reise gewesen sein.
Und dass sich alles ganz schnell auch wieder ändern kann – das sollte sich schon bald zeigen.