Tag 118 – Münster – zu Gast bei Heike & Christoph und wie die Stimme eines Schweigenden zum besonderen Geschenk werden konnte

Ich habe Heike bei einem Council-Seminar im Eschwege-Institut kennengelernt, das ich im Rahmen meiner Recherchen über das Zuhören in Gruppen besucht habe. Heike war eine der beiden Leitenden des Seminars, aus dem ich sehr viel für mich selbst und mein jetziges Projekt mitgenommen habe – besonders die Praxis mit dem Redestab, den ich seither bei den Walks in Silence und auch beim Wandern einsetze, um meinem Gegenüber zu signalisieren, dass nun Raum ist, zu erzählen.
Es ist erstaunlich, was geschieht, wenn man bewusst dieses Symbol überreicht bekommt, es in den Händen hält – und der andere in dieser Zeit wirklich nur zuhört. Für mich bedeutet es, mich vollkommen zurückzunehmen und präsent zu bleiben. Es ist immer wieder bewegend zu erleben, wie viel sich allein dadurch verändert, was und wie Menschen dann erzählen.
Am letzten Tag des Seminars saß ich mit Heike länger zusammen. Ich erzählte ihr von meinem Projekt, das damals noch in der Konzeptionsphase war – von meinen Ängsten und davon, was dieses Vorhaben mit meiner Beziehung zu Flavia machte. Doch es war kein einseitiges Gespräch: Heike vertraute mir an, dass ihr Mann Christoph an einer seltenen Form von Demenz erkrankt war und die Krankheit langsam fortschritt.
In diesem Gespräch bekam ich eine erste Ahnung davon, was geschieht, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die die Fähigkeit des Zuhörens nicht nur gelernt, sondern verinnerlicht haben – welche Tiefe sich in kürzester Zeit entwickeln und welch tiefe Verbindung dabei entstehen kann. In all meiner damaligen Unsicherheit spürte ich plötzlich, dass ich auf dem richtigen Weg war – dass ich dieses Projekt wagen muss.
„Zuhören – echtes, aufmerksames Zuhören – ist eines der größten Geschenke, die wir einander machen können.“ Wie auf meinem Kärtchen steht. Durch Gespräche wie dieses habe ich es selbst erfahren.
Schon damals hatte mich Heike eingeladen, bei ihr unterzukommen, falls mein Weg mich eines Tages nach Münster führen sollte. So wusste ich, welchen Umständen ich begegnen würde, als ich nun für einige Tage bei ihr und Christoph zu Gast sein durfte. Am Tag meiner Ankunft war vieles im Umbruch: Ihr ältester Sohn war an diesem Morgen ausgezogen, Christophs Krankheit machte Fortschritte, und Heike hatte sich wenige Tage zuvor von ihrem Pferd getrennt – einem Tier, das eigentlich Ausgleich und Freude bringen sollte, schließlich aber zur Belastung geworden war.
Und trotz all dieser Veränderungen wurde ich sehr herzlich empfangen – auch wenn ich anfangs selbst Bedenken hatte, ob der Besuch eines Schweigenden in so einer Situation vielleicht nicht doch zu viel sein könnte. Denn auch ein stiller Mensch nimmt einen gewissen Raum ein. Meine Bedenken wurden glücklicherweise nicht bestätigt.
Christoph ging sehr offen mit seiner Krankheit um und sprach oft nur von der „lästigen Demenz“. Beim Abendessen erzählte er mir, dass der Arzt ihm bei der Diagnose gesagt habe, er könne sich nun hinsetzen und auf den Tod warten – oder er könne immer wieder neu schauen, was noch möglich sei. Diesen zweiten Weg ging er auf bewundernswerte Weise, indem er seine Krankheit nicht einfach hinnehmen, sondern annehmen wollte. Wie er sagte: „Wenn man etwas hinnimmt, ist man ein Opfer. Wenn man etwas annimmt, bleibt man aktiv.“
Bis vor wenigen Jahren war er noch alleine pilgern, obwohl sein Orientierungssinn bereits eingeschränkt war und er sich nur mithilfe eines Navigationssystems zurechtfand. Ich bewunderte ihn und auch Heike sehr für diesen Mut – sie, weil sie ihn hat ziehen lassen, und ihn, weil er trotz der Einschränkungen losgezogen ist.
Inzwischen ist Christophs Sehvermögen so weit beeinträchtigt, dass er nicht mehr lesen und schreiben kann und sich manchmal selbst in vertrauter Umgebung verliert. Doch davon lässt er sich nicht aufhalten: Er geht weiterhin kleine Besorgungen machen – für mich ist er sogar extra zum Italiener gegangen, um uns beiden ein paar wunderbare Cornetti mit Pistazienfüllung für ein zweites Frühstück zu besorgen. Außerdem hat er noch viele Ideen, etwa in einer Tagespflege gemeinsam mit anderen Demenzkranken einen Council-Gesprächskreis zu beginnen. Einen großen Teil seiner Zeit verbringt er mit Hörbüchern. Dazu kommt eine sehr gut funktionierende Hausgemeinschaft, Freund*innen und natürlich auch seine Kinder als wichtiger Teil eines unterstützenden Umfelds, die alle dazu beitragen, dass sich das Leben nicht nur um die Erkrankung dreht, sondern weiterhin überwiegend „normales“ Leben stattfindet – an dem ich während meines Aufenthalts schweigend teilhaben durfte. Ich half im Garten, lernte die Kinder und Nachbarn kennen, wir aßen zusammen, erzählten und lachten.
Und in diesem Alltagsleben trafen dann zwei Menschen aufeinander: einer, der nicht spricht, und einer, der kaum sehen kann. Mein Schweigen machte die Kommunikation mit Christoph herausfordernd, und mir wurde erneut bewusst, wie wichtig meine schriftlichen Notizen für den Austausch in den vergangenen Monaten geworden sind, denn oft brauchte ich nun Heike als „Übersetzerin“, um mich an ihn wenden zu können.
Und dann geschah etwas Wundervolles: Ich erzählte, dass ich im Winter – wenn es im Norden schon um vier Uhr dunkel wird – meist früh mein Zelt aufschlagen werde. Die langen Abende habe ich vor, im Schlafsack zu nutzen: um Tagebuch zu schreiben, Organisatorisches zu erledigen, zu lesen oder einfach zu meditieren – gerne auch mal zwei bis drei Stunden am Tag. Fast so, als würde ich mich in eine kleine Einsiedelei – mein Zelt – zurückziehen. Deshalb fürchte ich mich auch immer weniger vor der Einsamkeit und Dunkelheit. Christoph gefiel der Gedanke, und er sagte, er würde das Meditieren gern noch lernen.
Als Meditations- und Achtsamkeitslehrer fühlte ich mich direkt angesprochen, doch im Schweigen eine angeleitete Meditation zu geben, war nicht möglich. In Stille zusammenzusitzen kann sehr schön und wirkungsvoll sein, aber ich zweifelte, ob er sich nach meiner Abreise allein hinsetzen würde, um auf diese Weise weiter zu meditieren. Es braucht ein Grundgerüst, auf dem die Meditation aufbauen kann – etwas, das man zuvor erlernen muss. Also bot ich an, am nächsten Tag gemeinsam eine geführte Atemmeditation vom Band zu hören – meine eigene Aufnahme.
Und so kam es, dass Christoph meine Stimme zum ersten Mal hörte – nicht aus meinem Mund, sondern von der Aufnahme. Weil es ihm gefallen und sichtlich gutgetan hatte, hörten wir am darauffolgenden Tag gemeinsam einen 45-minütigen Bodyscan, bei dem auch Heike mitmachte. Christoph konnte der Übung gut folgen – etwas, das selbst für viele Teilnehmende meiner Achtsamkeitskurse anfangs eine echte Herausforderung ist: die Aufmerksamkeit über den gesamten Zeitraum der Übung aufrechtzuerhalten. Für ihn war es eine wunderschöne Entdeckung, dass er sich über längere Zeiträume hinweg so gut konzentrieren konnte.
Es war eine berührende und zugleich paradoxe Situation: Mein Schweigeprojekt hatte mich nach Münster geführt – und nun schenkte ich einem Menschen, der kaum sehen kann, über meine Stimme vom Band einen Zugang zur Meditation. Wir lachten viel darüber, und doch lag darin ein besonderes Geschenk für uns alle.
Heike schrieb mir später, dass sie beide auch in den folgenden Tagen weiter meditiert haben. Das hat mich sehr gefreut. Es ist erstaunlich, welche Wege dieses Projekt nimmt – und dass ich, obwohl ich schweige, Menschen auf so unterschiedliche Weise berühren und unterstützen kann. Dafür bin ich dankbar: für die Offenheit, nach Wegen zu suchen, mit meinen Möglichkeiten etwas zu geben, anstatt aus künstlerischer Konsequenz auf alles zu verzichten, was mit meiner Stimme zu tun hat.
Nach drei Nächten bei Heike und Christoph machte ich mich am Morgen erholt, ausgeruht, mit frisch gewaschener Kleidung, imprägnierten Schuhen und vollem Rucksack auf den Weg nach Osnabrück. Zum Abschied sangen sie mir das Taizé-Lied
„El alma que anda en amor, ni cansa, ni se cansa.“
– in der deutschen Übersetzung:
„Die Seele, die in der Liebe wandelt, ermüdet nicht und wird nicht müde.“
Die Melodie und die Worte begleiteten mich noch viele Kilometer, bis mir bewusst wurde, dass dieses Lied nicht nur zu mir und meinem Weg passte, sondern für die beiden selbst eine noch viel tiefere Bedeutung hatte – für ihre Liebe, für all das, was auf sie wartete.
Und deshalb wünsche ich ihnen von ganzem Herzen, dass sie in dieser Liebe wandeln – und in ihr nicht ermüden und nicht müde werden.

