Tag 121: Das Geschenk der Stille – Wandern mit Anja

Um 10 Uhr traf ich mich am Bahnhof in Münster mit Anja, die extra aus Stuttgart angereist war, um mich zwei Tage lang schweigend auf meinem Weg zu begleiten. Schon im Sommer hatten wir mehrere mögliche Termine für eine gemeinsame Wanderung besprochen, und an diesem Wochenende hatte es nun endlich gepasst: Die Zugverbindungen ließen es zu, und wir fanden sogar eine Unterkunft ziemlich genau auf halber Strecke. Und ich durfte mich glücklich schätzen, eine Nacht mehr auf meiner Reise ein festes Dach über dem Kopf zu haben.
Um nicht allzu spät in Münster los zu gehen, war Anja bereits kurz nach vier Uhr aufgestanden, um gegen sechs Uhr den Zug am Stuttgarter Hauptbahnhof zu nehmen. Als wir uns trafen, lag ein klarer, sonniger Herbstmorgen über der Stadt. Schweigend verließen wir Münster.
Nach einer Weile fragte sich Anja, was sie hier eigentlich mache. Früh aufstehen, hunderte Kilometer mit dem Zug fahren, um dann mit einem Schweigenden zwei Tage entlang eines stillen, in weiten Teilen eher eintönigen Kanals zu wandern. Sie sprach diese Gedanken offen aus und fragte sich, was sie wohl innerlich dazu bewegt habe, das zu tun.
Vielleicht schwang in dieser Frage noch der Satz ihres Mannes mit, von dem sie mir später erzählte: „Du lernst es nie …“, hatte er gesagt, als sie die Tickets kaufte – wohl wissend, dass Anjas Kalender ohnehin schon überfüllt ist.
Am Sonntag, nach rund 23 Kilometern, erreichten wir die Stadt, von der aus Anja ihren späten Zug zurück nach Stuttgart nehmen sollte. Wir waren beide müde. Doch trotz der Strapazen der weiten Anreise und der langen Wanderung wirkte Anja ruhig, gelöst und zutiefst zufrieden.
Bevor wir uns herzlich verabschiedeten, fragte sie mich, ob sie mich im nächsten Jahr vielleicht noch einmal begleiten könne.
Das Wandern mit einem Schweigenden – so schien es – hatte die weite Anfahrt und die Mühen mehr als aufgewogen. Die Langsamkeit und die Stille wurden zu einem Gegengewicht zu ihrem sonst so vollen Leben.
Darüber habe ich mich sehr gefreut.