Tag 128 – Begegnung mit einem Brückenbauer zwischen Naturschutz und Bauern

(Nachtrag: Diese besondere Begegnung liegt nun schon 4 Wochen hinter mir und es hat etwas gedauert, bis ich den Text erarbeitet habe)
Laut Wettervorhersage sollte in der Nacht ein Sturmtief mit viel Regen über mich hinwegziehen. Deshalb hatte ich am Abend zuvor schon ein paar Kilometer vor meinem Etappenziel eine kleine Schutzhütte aufgesucht, um dem Sturm nicht im Zelt ausgeliefert zu sein. Der Wind pfiff schon am Abend durch die Ritzen, und obwohl ich tief in meinen Mumienschlafsack gekrochen war, fröstelte ich in der Nacht. Dabei lagen die Temperaturen noch bei fünf, sechs Grad – eigentlich im Komfortbereich meines Schlafsacks. Ich war enttäuscht, aber auch gespannt, ob sich mein Körper in den kommenden Wochen noch besser an die Kälte anpassen würde.
(Keine Sorge: Seit dieser Nacht habe ich nicht mehr gefroren, obwohl die Temperaturen mittlerweile schon weit unter dem Gefrierpunkt waren.)
Als ich am frühen Morgen aufwachte, war der Sturm schon da. Der Regen erreichte mich selbst im hinteren Teil der Hütte, und ich packte so schnell wie möglich alles zusammen, bevor mein Schlafsack völlig nass war, und kauerte mich in eine Ecke, wo mich der Regen nicht erreichen konnte. Drei Stunden später, als der Regen endlich vorbei war, war ich trotz mehrerer Schichten Kleidung und Daunenjacke ordentlich durchgefroren. Aber das Gehen wärmte, und mit jedem Schritt wich das Frösteln der Bewegung.


24 Kilometer lagen vor mir – mehr, als ich geplant hatte, aber ich hatte ein festes Ziel: eine Übernachtung in einer Pilgerherberge. Der Tag zog sich, die Wege waren nass und immer wieder überraschend hügelig in den Dammer Bergen. Als ich am späten Nachmittag den Hof von Jürgen in Kroge erreichte, war ich erschöpft, aber froh, endlich anzukommen. Eigentlich wollte ich nach dieser Nacht und der langen Wanderung von der Welt nichts mehr wissen und mich nur noch erholen.
Ich hatte Jürgen ein paar Tage zuvor eine E-Mail geschrieben, um anzufragen, ob ich in seiner kleinen Pilgerherberge übernachten dürfe. Darin hatte ich ihm auch erzählt, dass ich kein klassischer Pilger bin, sondern ein Jahr lang schweigend durch Deutschland wandere, um den Menschen zuzuhören. Er hatte sofort geantwortet und mich eingeladen – und als ich ankam, wartete er bereits.
Ich hätte gerne erst einmal geduscht und wäre gern ein wenig zur Ruhe gekommen, doch Jürgen zeigte mir zuerst die Herberge, lud mich dann aber gleich in die Küche ein. Er wollte die Gelegenheit nutzen, dass er einen Zuhörer hatte. Der Tisch war gedeckt, er setzte Tee auf und begann zu erzählen. Schon nach wenigen Minuten sprach er offen an, dass er an beginnender Demenz leide. Manchmal stotterte er leicht, weil ihm die Worte fehlten, aber sonst hätte ich das kaum bemerkt. Es gab keine Wiederholungen, und er folgte klar dem roten Faden seiner Geschichte.

Da saß nun ein Mann, der es gewohnt war, viel zu erzählen, weil er viel weiß und viel erlebt hat, das er teilen möchte. Und weil seine Krankheit ihm das immer schwerer machte, suchte er nun bewusst Gelegenheiten, von seinem Leben zu erzählen – solange es noch möglich war. Sein Vater war ebenfalls dement gewesen, die letzten Jahre vor seinem Tod waren, wie er sagte, nicht mehr schön.
„Ich weiß nicht, was ich in einem Jahr noch weiß“, sagte er ruhig. „Also erzähle ich dir jetzt mein Leben.“
Und das tat er. Nach den 24 Kilometern und der kurzen Sturmnacht musste ich kurz schlucken, aber ich habe es nicht bereut, mich auf diese lange Erzählung einzulassen.
Er begann nicht einmal bei sich, sondern erzählte von der Geschichte des Hofes, wie die Bauern dieser Gegend das Land seit Jahrhunderten nutzbar machten. Er sprach von seiner Familie, die seit Generationen denselben Hof bewirtschaftet, von seiner Großmutter, die aus der Stadt kam und anderes Denken in die Familie brachte. Eigentlich sollte sein älterer Bruder den Hof übernehmen, doch Krankheit machte das unmöglich. So wurde Jürgen, der Natur- und Landschaftspflege studiert hatte, unerwartet zum Bauern.
Er erzählte von seiner Arbeit im Ministerium für Naturschutz, die er viele Jahre mit der Bewirtschaftung seines Hofes verband. Von seinen Galloway-Rindern, die er züchtete, und von dem Spagat zwischen Bürokratie und Boden, zwischen Theorie und Praxis. Bis zu 80 Tiere hielt er zeitweise – und schaffte es, zwei Welten miteinander zu verbinden, die sich oft feindlich gegenüberstehen: Landwirtschaft und Naturschutz. Zeitweise war er sogar im Vorstand der Deutschen Galloway-Züchter und richtete ein internationales Treffen auf seinem Hof aus. All dies wäre ohne die tatkräftige Unterstützung seiner Frau nicht möglich gewesen.
Sein Wissen, seine Leidenschaft und sein Humor beeindruckten mich. Und auch, wie er sprach: ruhig, klar, mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut. Zwei Stunden saßen wir beisammen, ehe er mich an diesem Abend entließ.
Am nächsten Morgen holte mich Jürgen ab, um mir seinen Hof zu zeigen. Er bedauerte, dass die meisten Pilger sonst kaum Zeit hätten – abends zu müde, morgens früh weiter. Es freute ihn sichtlich, dass ich mir Zeit nahm. Wir gingen gemeinsam über das Gelände, und nun bekam das, was er mir am Vorabend erzählt hatte, einen realen Hintergrund.
Er zeigte mir ein Kunstwerk aus Holz und Stahl, das er auf der Weide aufgestellt hatte – ein Objekt, an dem sich seine Galloways „schubbern“ konnten. Anfangs hatten die Nachbarn ihn belächelt, doch heute gilt es als Symbol für die Verbindung von Kunst, Landwirtschaft und Tierwohl.


Mit großem Stolz führte er mich über die Wiesen, zeigte mir die Bäume und Hecken, die er gepflanzt, die Teiche, die er angelegt hatte, und die Flächen, die er bewusst verwildern ließ. Die Galloway-Herde wird inzwischen von neuen Besitzern betreut, die seine Arbeit in seinem Sinne fortführen. Jede Geschichte war ein Stück gelebter Erfahrung, eine kleine Lektion in Achtsamkeit und Weitsicht.
Wie schon am Abend zuvor sprach er über die konventionelle Landwirtschaft, über die wachsenden Höfe, die immer größeren Maschinen, über die Felder, die sich den Maschinen anpassten. Als Naturschützer hatte er es oft nicht leicht, aber weil er selbst Bauer war, genoss er Respekt.
Als wir am Stall eines Nachbarn vorbeikamen, der mehrere tausend Mastschweine hielt, sprach er ohne jede Herablassung. Er wusste, dass er als Nebenerwerbsbauer eine andere Freiheit hatte, und dass Bauern von ihrer Arbeit leben müssen. Aber das hielt ihn nicht davon ab, immer wieder das Gespräch zu suchen, um Dinge zu verändern.
Er erzählte, wie er über die Kinder Zugang zu den Bauernfamilien suchte – indem er Schulklassen auf den Hof einlud, um ihnen Artenvielfalt und Tierwohl zu zeigen. „Wenn die Kinder begeistert sind“, sagte er, „haben sie oft mehr Einfluss auf ihre Eltern als jeder Beamte.“
Und er erzählte, wie er in Gesprächen mit Bauern oft Plattdeutsch sprach – um Nähe zu schaffen, um zu zeigen, dass er einer von ihnen ist. So, sagte er, könne man Brücken bauen zwischen Welten, die sonst kaum miteinander reden. Genau diese Fähigkeit, Brücken zu bauen, nicht gegen die Bauern zu sein, sondern mit ihnen nach Wegen zu suchen, das Tierwohl zu verbessern, Böden zu schützen, an ertragsschwachen Stellen wieder Hecken zu pflanzen – diese Haltung hat mich besonders beeindruckt. Ein wahrer Brückenbauer, wie es sie in Zeiten zunehmender Polarisierung immer seltener gibt.
Während wir so gingen, fiel mir auf, dass er fast keine Aussetzer mehr hatte. Keine stockenden Sätze, kein Suchen nach Worten. Er war in seinem Element – und die Sprache floss. Da wurde mir wieder bewusst, dass tiefes Zuhören auch eine heilende Wirkung hat. Nicht in dem Sinn, dass die Demenz von Jürgen durch mein Zuhören geheilt war, aber in dem Sinn, dass Menschen, wenn sie sich angenommen, gehört und wohlfühlen, oft wesentlich mehr abrufen können, als wenn sie mit sich selbst hadern oder im Widerstand gegen ihre Krankheit sind.
Als ich mich später verabschiedete, sagte er:
„Das war etwas ganz Besonderes für mich. Ich werde deinen Besuch nicht vergessen.“
Ich glaube, das war kein bloßer Satz. Ich spürte, dass ihm die Begegnung wirklich gutgetan hatte – das Zuhören, das Erzählen, die Aufmerksamkeit. Und mir ging es ähnlich. Ich war tief berührt von diesem Mann, der so viel erlebt, gelernt und gegeben hat – und der Sorge hat, dass seine Erinnerungen langsam verblassen.
