Tag 62 - Eintauchen in andere Welten

Wenn man selbst andere Wege geht, trifft man zwangsläufig Menschen, die ebenfalls unkonventionelle Pfade eingeschlagen haben. Für mich ist es immer wieder faszinierend, Einblick in solche Lebenswelten zu bekommen – Welten, die auch meine eigenen Vorstellungen von richtig und falsch, von gut und schlecht auf die Probe stellen. Besonders schön und spannend wird es, wenn man dabei auf sympathische und offene Menschen trifft.
Alena und Chris gehören für mich genau dazu. Ich habe die beiden mit ihren Teenager-Kindern in Ettlingen kennengelernt. Sie leben seit zwei Jahren im Wohnmobil. Alena entdeckte mich damals im Park mit ihrem Sohn, war durch das Tiny House sofort neugierig geworden und – nachdem ich ihr mein Kärtchen gezeigt hatte – sehr angetan von meinem Projekt, das sie dann auch ihrem Sohn erklärte. Zusammen erzählten sie mir ihre Geschichte:
Ihr Sohn fühlte sich in der staatlichen Grundschule überhaupt nicht wohl. Deshalb wechselte er zunächst auf eine Montessorischule. Doch auch dort traten bald Probleme auf, die sich in Gesprächen mit Lehrern nicht lösen ließen. Schließlich verweigerte der Junge komplett den Schulbesuch. Alena fasste daraufhin einen mutigen Entschluss mit weitreichenden Konsequenzen: Sie nahm ihren Sohn ganz aus der Schule, um ihn nicht in ein System zu pressen, an dem er zu zerbrechen drohte. Da in Deutschland Schulpflicht herrscht, musste die Familie sich abmelden und den Großteil des Jahres im Ausland verbringen.
Chris, der bis dahin einen klassischen Ingenieursjob hatte, war anfangs skeptisch, ob ein Leben ohne festen Wohnsitz funktionieren könne. Und auch für Alena, die ursprünglich in der Modebranche gearbeitet hatte und es gewohnt war, an keinem Tag dasselbe vom Vortag zu tragen, war dieser Schritt sicher nicht leicht. Doch die beiden verkauften und verschenkten fast alles, was sie nicht mehr brauchten, und tauschten das Einfamilienhaus gegen ein freies Leben im Wohnmobil. Seit zwei Jahren reisen sie nun zu viert durch Europa, verbringen den Winter meist im Süden und den Sommer häufig in Deutschland bei Familie und Freunden.
In den Tagen nach unserer ersten Begegnung kamen Alena oder Chris, manchmal mit den Kindern, immer wieder bei mir vorbei. Für Alena war schnell klar, dass wir uns wiedersehen würden. Und so kam es tatsächlich: Chris, der meine Wanderung über den Livetracker verfolgte, sah, dass ich bei Hockenheim vorbeikommen würde, wo sie gerade bei Freunden im Schrebergarten Halt machten. Mein Weg führte direkt an diesem Garten vorbei. Zufall? Ich kürzte meine Etappe auf zehn Kilometer, freute mich über das Wiedersehen und wurde von ihren Freunden genauso herzlich aufgenommen, als würde ich längst dazugehören. Ein großes Stück Kuchen vom Biobäcker versüßte den Empfang noch mehr.
Ich habe mich gefragt, warum diese Begegnungen so vertraut waren. Sicherlich gibt es Gemeinsamkeiten: Wir sind beide Aussteiger, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Bei ihnen ist es ein neues, dauerhaftes Lebensmodell, bei mir ein zeitlich begrenztes Kunstprojekt. Beide Wege sind geprägt von Unsicherheit und der Bereitschaft, das Leben auf sich zukommen zu lassen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich sie nicht – wie so viele andere – mit Fragen überschüttet habe: „Wie funktioniert das mit zwei Teenagern im Wohnmobil? Wie unterrichtet ihr sie? Habt ihr keine Sorge, dass sie ohne Zeugnis später nicht zurechtkommen? Wie verdient ihr unterwegs Geld?“ Natürlich hatte auch ich diese Fragen im Kopf, aber ich konnte sie nicht stellen. Und genau das war vielleicht ein Geschenk.
Denn ich weiß selbst, wie ermüdend es ist, immer wieder Antworten geben zu müssen, die man selbst nicht sicher kennt – oder sich ständig zu wiederholen. Vor meinem Projekt wurde ich oft gefragt, wie ich wohl mit Menschen in Kontakt kommen wolle, wenn ich nicht spreche, oder wie ich den Winter verbringen würde. Auch ich hatte darauf zunächst keine klaren Antworten, und die Sache mit dem Winter ist mir bis heute nicht klar. Wie wohltuend ist es also, wenn man jemanden trifft, der nicht fragt, sondern einfach zuhört.
Und so kann ich auch hier nicht alle Fragen beantworten, die sich vielleicht stellen, wenn man einer Familie wie dieser begegnet. Aber ich kann davon berichten, was ich mit ihnen erlebt habe und welchen Eindruck ich mitnehme: Es ist eine Familie, die ihren ganz eigenen Weg geht. Zwei Kinder, die aufgeweckt, neugierig und wissbegierig sind. Kinder, die ein aufregendes Leben führen, an dem sie wachsen können. Sorgen mache ich mir eher um die vielen anderen Kinder, die im Schulsystem unter die Räder geraten, innerlich dichtmachen und ihre Zeit mit endlosen Bildschirmstunden füllen, niemanden mehr an sich heranlassen.
Vielleicht spüre ich da auch etwas sehr Persönliches: In der achten Klasse war ich auf der Hauptschule selbst versetzungsgefährdet, gedanklich weit weg, geistig abwesend, obwohl ich körperlich im Klassenzimmer saß. Viel gelernt habe ich in dieser Zeit sicher nicht. Über viele Umwege habe ich mein Abitur dann doch geschafft – mit Belobigung. Aber ohne die Pfadfinder, ohne die Reisen, Begegnungen und Freundschaften, die damals entstanden sind und mich bis heute tragen, frage ich mich manchmal, wo ich heute wäre. Vieles von dem, was mich geprägt hat, verdanke ich dieser Zeit – und nicht allein der Schule. Deshalb glaube ich, dass es viele Aspekte im Leben gibt, die mindestens genauso wichtig, wenn nicht sogar weit bedeutender sind als die klassische Schulbildung, die in Deutschland oft an erster Stelle steht.
Dass es von den Eltern viel Kraft verlangt, so einen eigenen Weg einzuschlagen, steht außer Frage. Aber je länger ich Alena und Chris erleben durfte, umso mehr habe ich sie für ihren Mut gefeiert. Sie haben einen Weg gefunden, der nicht einfach ist, sich für mich aber sehr stimmig anfühlt. Vielleicht stellt ihr Leben unsere konventionellen und oft kaum hinterfragten Lebensweisen genauso infrage wie mein Schweigejahr.
Alena berät inzwischen andere, die ähnliche Schritte wagen wollen, und arbeitet mit ätherischen Ölen. Chris gibt Breathwork-Kurse, in denen man über den Atem zu mehr Ruhe und Bewusstsein findet. Da ist noch vieles, was ich nicht erfahren habe – dafür bräuchte es weitere gemeinsame Abende am Feuer. Wer mehr über ihre Arbeit erfahren möchte, kann selbst in ihre Welt eintauchen: @onehappyfreefamily
Für mich war diese Begegnung ein weiteres Beispiel dafür, wie bereichernd es ist, in fremde Welten einzutauchen – wenn man wirklich zuhört.