Tag 72 – Wenn die Stille auf den Lärm trifft

Kurz vor Frankfurt stand ich vor einer Entscheidung: 25 Kilometer durchziehen, um abends bei meinem guten Freund Flo aus Studienzeiten unterzukommen. Oder es ruhiger angehen, einen Stopp am Baggersee einlegen, Tagebuch führen, Organisatorisches erledigen – und danach im Stadtwald vor den Toren Frankfurts mein Zelt aufschlagen. Die Sonne versprach einen schönen Nachmittag, also entschied ich mich für die zweite Variante. Mein „Wanderoffice“ am See war perfekt dafür.
Doch je näher ich Frankfurt kam, desto lauter wurde es: Autobahnkreuze mitten im Wald, Flugzeuge im Minutentakt über mir, Züge, die vorbeidonnerten. Je mehr man in der Stille ist, desto präsenter kann der Lärm werden. Meine innere Stille und der äußere Lärm prallten aufeinander.
Früher hätte mich das innerlich aufgebracht. Ich hätte mich zurückgesehnt in die ruhigen Wälder des Odenwalds, hätte geklagt über all die Zumutungen des Fortschritts – und je mehr ich mich dagegen gewehrt hätte, desto lauter wäre auch der Lärm in meinem Kopf geworden.
Diesmal war es anders. Ich habe ihn wahrgenommen, deutlich, manchmal fast überwältigend. Und manchmal bin ich auch in meine alten Muster zurückgefallen. Dann habe ich mich wieder innerlich beschwert und die Menschen bemitleidet, die hier leben und den Lärm Tag für Tag ertragen müssen. Aber der Lärm blieb nicht der Mittelpunkt. Immer wieder konnte ich mich aus dem Widerstand lösen, den Blick weiten und erkennen, dass um mich herum viel mehr war als diese Geräuschkulisse: das Licht zwischen den Bäumen, ein Vogelruf, mein eigener Atem.
An diesem Tag durfte ich erfahren: Lärm verschwindet nicht, nur weil man still wird. Ganz im Gegenteil – man wird sogar noch sensibler und nimmt ihn intensiver wahr. Aber es macht einen Unterschied, ob ich ihn bekämpfe oder ob ich ihn wahrnehme, akzeptiere und ihm nicht mehr Raum gebe, als er ohnehin hat.
Innere Stille entsteht nicht dort, wo es außen ruhig ist, sondern dort, wo wir unseren Fokus bewusst ausrichten und den Raum öffnen für all die anderen Dinge.
Und lässt sich diese Erkenntnis aus dem lauten Frankfurter Stadtwald nicht auf den Lärm in der Politik und Gesellschaft unserer Zeit übertragen, der die Welt mehr und mehr vereinnahmt und alles andere – all die schönen und guten Dinge – übertönt, bis wir glauben, dass die Welt nur noch ungerecht und schlecht ist?