Tage 123–125 – Osnabrück, Kunstraum Hase

Bei meiner Ankunft in Osnabrück hatte ich genau ein Drittel meines Jahres im Schweigen hinter mir – ein Moment, der mich sehr freute. Ich empfand es als keine Selbstverständlichkeit, dass ich so lange durchgehalten hatte. Meiner Freude tat auch kein Abbruch, dass mir bewusst war, dass nun das wohl herausforderndste Drittel vor mir lag: der lange Weg durch den Norden und Osten Deutschlands, im Spätherbst und Winter.
Im Kunstraum Hase wurde ich von Elisabeth Lumme empfangen – der ehemaligen künstlerischen Leiterin und nach wie vor einer der tragenden Säulen des Kunstvereins. Sie zeigte mir den Raum und erzählte von der Entstehungsgeschichte des Vereins:
2016 hatten sich Künstlerinnen, Künstler und Kulturschaffende zusammengeschlossen, nachdem die Stadt ihre Fördermittel für Kunst und Kultur streichen wollte. Mit viel Engagement und Eigeninitiative schufen sie den Kunstverein Hase 29, der inzwischen zu einer festen Größe in Osnabrücks und Niedersachsen Kulturlandschaft geworden ist – mit Ausstellungen, Vermittlungsprogrammen und zahlreichen Kooperationen.
Heute steht der Verein an einem Wendepunkt: Noch immer basiert vieles auf ehrenamtlichem Einsatz, während die Gründungsmitglieder sich langsam zurückziehen – und offen ist, wie die entstehenden Lücken geschlossen werden können. Ob die Stadt die erhoffte Erhöhung der Förderung bewilligt, ist ungewiss.
Ich selbst hatte in der Nachbarschaft des Kunstraums eine kleine Wohnung bekommen – ein seltener Luxus nach vielen Tagen unterwegs und vielen Begegnungen. Zum ersten Mal seit Langem musste ich nicht raus und hatte eine Unterkunft ganz für mich allein. Ich konnte mein Zelt und den feuchten Schlafsack trocknen, meine Ausrüstung in Ordnung bringen und einfach wieder einmal an einem Tisch auf einem Stuhl sitzen. Ich nutzte die Zeit, um Organisatorisches zu erledigen, Mails zu beantworten und meinen Blog – der schon zwei Wochen hinterher war – wieder etwas näher an die Gegenwart zu bringen.
Am Nachmittag meines dritten Tages in Osnabrück bereitete ich mit Elisabeth den Raum fürs Zuhören vor. Ich war gespannt, was passieren würde. Elisabeth hatte angekündigt, dass sich bisher nur eine Person angemeldet hatte – ansonsten war alles offen.
Als zunächst niemand erschien, zögerte sie nicht lange. Mit spürbarer Energie und ohne jede Scheu ging sie hinaus auf die Straße, wo es kalt war und Schmuddelwetter herrschte. Sie sprach Passantinnen und Passanten an und erzählte ihnen von dem Projekt: von einem Künstler, der für ein Jahr schweigend durch Deutschland wandert und einfach nur zuhört. Ob sie Lust hätten, diese Erfahrung zu machen?
Sie hatte ein gutes Gespür dafür, wen sie ansprechen konnte. Menschen, die hastig vorbeigingen, ließ sie ziehen. Wer schlenderte, blieb eher stehen. Und so kam sie nach kurzer Zeit mit den ersten Besucherinnen zurück – und schließlich mit vielen weiteren. Dreizehn Menschen brachte sie mir im Laufe des Tages, einige davon zu zweit. Dazu kamen noch Interessierte, die über den Kunstverein vom Projekt erfahren hatten. Bis in den frühen Abend hinein war der Raum erfüllt von Geschichten, Begegnungen und manchmal auch von Stille.
Und dann ergab sich wieder eine jener Begegnungen, die mich besonders berührt haben – und bei der ich mich frage, ob sie Zufall oder Fügung war.
Die zweite Person, die Elisabeth auf der Straße ansprach, lehnte zunächst ab. Sie meinte, sie würde wohl nur in Tränen ausbrechen, wenn sie versuchen würde, ihre aktuellen Gefühle in Worte zu fassen. Nach einigen Minuten kehrte sie jedoch zurück, setzte sich zu mir und fragte, ob ich auch schon in Ettlingen gewesen sei – sie habe damals in der Zeitung von mir gelesen. Dieser Umstand habe sie bewogen, umzukehren, da sie dachte, das könne kein Zufall sein. Sie war extra aus Ettlingen für zwei Tage in ihre alte Heimat Osnabrück gereist, um sich zu sortieren und Abstand von den Sorgen zu Hause zu gewinnen – und wurde nun auf der Straße angesprochen. Und ausgerechnet an diesem regnerischen Tag in Osnabrück ging diese Frau aus Ettlingen vorbei, die dort von mir gehört hatte. Verrückt.
Sie erzählte mir letztlich nicht, weshalb es ihr nicht gut ging. Sie saß einfach da und weinte, und ich hielt den Raum für sie. Irgendwann nahm ich ihre Hände, und als sie sich etwas besser fühlte, gingen wir noch gemeinsam in die Stille. Nach einer Weile wurde ihr Atem ruhiger. Zum Abschluss bedankte sie sich – wahrscheinlich einfach dafür, dass ich da war und ihr den Raum für ihren Kummer gegeben hatte, ohne dass sie aussprechen musste, was sie bewegte. Auf einer anderen Ebene hat sie dennoch viel mit mir geteilt – eine Form von Begegnung, die keine Worte braucht. Vielleicht ist es genau diese Art von Begegnungen, die mich immer wieder spüren lassen, warum ich unterwegs bin.
Mit diesen vielen Begegnungen und Momenten wie diesem wurde auch Osnabrück zu einer besonderen Station meines Weges.
Mein herzlicher Dank gilt Elisabeth Lumme, ohne die dieser Aufenthalt nicht möglich gewesen wäre, und dem Team des Kunstvereins Hase 29, das mir Raum, Unterstützung und offene Herzen geschenkt hat.
