Tage 95 -97 Eine Begegnung im „Zuhause der Kunst“

Oft sind es die unerwarteten Begegnungen, die einen auf dieser Reise am tiefsten bewegen.
Gegen 16 Uhr kam ich bei Irina an. Sie ist eine der Verantwortlichen von St. Helena in Bonn, einer stillgelegten katholischen Kirche, die heute als „Dialograum für christlichen Kult und zeitgenössische Kultur“ dient. Dort fand gerade die Gruppenausstellung Peace of Art – Kunst verbindet mit vielen Künstlerinnen der GEDOK Bonn statt. Irina fand mein Projekt des Zuhörens absolut passend und nahm mich spontan ins Programm auf.
Meine Unterkunft für zwei Nächte war jedoch nicht in Bonn selbst, sondern in einem kleinen Ort im Siebengebirge, etwa 7 km abseits meiner Route: im „Zuhause der Kunst“, wie Irina ihr elterliches Haus nennt, wo sie einen kleinen Seminarraum eingerichtet hat und sogar gelegentlich Ausstellungen zeigt. Irina, die mein Live-Tracking verfolgt hatte, kam mir die letzten Meter entgegen und empfing mich mit einer Herzlichkeit, als würden wir uns schon immer kennen. Es gab sofort eine Umarmung und kurz darauf Kaffee und Kuchen. Irina wohnt einige Kilometer entfernt, doch das „Zuhause der Kunst“ ist das Haus ihrer 85-jährigen Mutter, die sich für die nächsten zwei Tage um mich kümmern sollte.
Man stelle sich vor: Die Tochter bringt einen fremden Mann ins Haus, der nicht einmal spricht – und nun liegt es an der Mutter, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Irina erzählte mir später, sie habe ihrer Mutter einfach gesagt: „Das wird bestimmt super funktionieren“, obwohl auch sie mich zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen hatte.
Anfangs war es gar nicht so einfach, denn Irinas Mutter war sehr bemüht, alles perfekt für mich zu organisieren. Ich hingegen wollte so bescheiden wie möglich sein, um ihr keine Last zu bereiten – ich war ja schon überglücklich über ein festes Dach und ein warmes Bett bei miserablem Wetter. Was wollte ich also mehr? Doch schnell merkte ich: Meine Bescheidenheit machte die Situation nicht besser. Erst als ich begann, ihre Gastfreundschaft anzunehmen, fühlten wir uns beide wohler und fanden zueinander. Es ist eine Lektion, die ich immer wieder mache: Als Gast Gastfreundschaft anzunehmen, kann ein genauso großes Geschenk sein, wie sie zu geben.
Am nächsten Morgen waren wir um 8:00 Uhr zum Frühstück verabredet. Sie war extra zum Bäcker gegangen, um für mich frische Brötchen zu holen und hatte einen reich gedeckten Tisch mit vielen Leckereien vorbereitet. Später bot ich ihr an, beim Gemüseschnippeln für das Mittagessen zu helfen – und diese Stunde nach dem Frühstück wurde zum eigentlichen Geschenk.
Wir saßen zusammen, und nach und nach fasste sie Vertrauen und begann von sich zu erzählen: vom Krieg, der ihr den Vater nahm und ihre Mutter mit den Kindern allein zurückließ. Von Vertreibung aus den Ostgebieten, Flucht, dem Flüchtlingslager – und dem großen Glück, schließlich auf einem Hof in einem Dorf wirklich willkommen zu sein. Immer wieder kamen ihr beim Erzählen die Tränen, und ich war unglaublich gerührt von ihrer Offenheit.
Das Schöne daran: Diese eindrückliche Begegnung fand nicht organisiert bei einem Kooperationspartner statt, für dessen Vorbereitung ich so viel Energie aufwende, sondern ganz unverhofft und privat am Küchentisch, beim Gemüseschneiden.
Nach einer zweiten Nacht im „Zuhause der Kunst“ und meiner Station zum Zuhören im Dialograum St. Helena bekam ich nochmals ein wunderbares Frühstück und hörte ein letztes Mal zu. Wie groß ihr Vertrauen zu mir mittlerweile war, zeigte sich, als sie mir vom Altwerden erzählte. Sie schilderte, wie sie manchmal das Gefühl habe, nun auch gehen zu können, dem gegenüber jedoch eine große Angst vor dem Tod stand.
Ich spürte, wie gut ihr mein Besuch getan hatte und wie tief das Vertrauen war, das sie mir entgegenbrachte. Nach diesen zwei Tagen fühlte es sich fast so an, als würde ich zur Familie gehören. Dementsprechend herzlich – und zugleich traurig – war unsere Verabschiedung.
Irina brachte mich zurück zu meiner Wegstrecke, von wo aus ich die letzten 45 Kilometer nach Köln in zwei Tagen gelaufen bin. Eine ganz neue Erfahrung: Die Strecke war komplett flach – doch der Asphalt war in meinen Barfußschuhen ein echter Stresstest.