Warum echtes Zuhören nicht erschöpft, sondern nährt

Nachdem ich fünfeinhalb Stunden im Künstlerhaus 43 zugehört hatte, wurde ich am Abend von Yvonne und Martina abgeholt, die beide vor fünf Jahren mit mir zusammen die Ausbildung zum Achtsamkeitslehrer begonnen haben.
Als wir das Theater verließen, fragte mich Martina, ob ich nun nicht völlig erschöpft sei. So viele Stunden dasitzen und zuhören – das müsse doch unglaublich anstrengend sein? Martina kommt selbst aus einem therapeutischen Kontext und weiß, wie fordernd es sein kann, wenn man den ganzen Tag mit Menschen arbeitet und viel zuhören muss.
Ich habe kurz in mich hineingespürt – und wie schon bei früheren Zuhör-Stationen war ich auch diesmal keineswegs Sehr erschöpft. Ganz im Gegenteil: Ich war selbst überrascht, wie wach und klar ich mich fühlte. Diese Beobachtung ließ mich nicht los, und ich begann, darüber nachzudenken, woran das liegen könnte.
Meine Vermutung ist ziemlich einfach:
Es ist nicht anstrengend, weil ich „nur“ zuhöre – ohne mir währenddessen Gedanken über das Gesagte zu machen, ohne ständig überlegen zu müssen, was ich antworten oder wo ich einhaken könnte. Ich versuche, das Gehörte so wenig wie möglich zu bewerten – mal gelingt mir das besser, mal weniger. Im Idealfall bin ich ganz auf mein Gegenüber fokussiert, während mein eigenes Denken nahezu stillsteht. Dazu kommt: Ich bin nicht im Widerstand gegen das, was mir erzählt wird, sondern freue mich in der Regel, dass sich jemand auf mich einlässt und mir Vertrauen schenkt. Das kann ich wiederum mit meiner ungeteilten Aufmerksamkeit beantworten.
Mit anderen Worten: Mein Kopf hat erstaunlich wenig zu tun – ich bin einfach im Zustand des Seins.
Später dachte ich noch weiter über diesen Zusammenhang nach. Unser Gehirn verbraucht rund 20 % der Gesamtenergie des Körpers. Das klingt zunächst nicht nach sehr viel – setzt man es aber in Relation zur Körpermasse, ist es enorm: Ein Gehirn wiegt durchschnittlich nur 1,2 bis 1,4 kg, und Muskeln, Verdauung, Atmung und Herzschlag benötigen ebenfalls Energie. Der hohe Anteil des Gehirns fällt da besonders auf.
Deshalb sind wir nach einem Tag im Büro oft erschöpft, obwohl wir uns körperlich kaum angestrengt haben.
Ich vermute also, dass ich an solchen Zuhörtagen abends deshalb noch relativ entspannt bin, weil all die Bewertungen, das Formulieren von Antworten und vor allem das Sprechen selbst bei mir keine großen Ressourcen verbrauchen. Es wäre spannend, das wissenschaftlich untersuchen zu lassen, ob an dieser Vermutung etwas dran ist.
Und wenn man diesen Gedanken weiterspinnt:
Vielleicht könnten wir im Alltag generell sehr viel Energie sparen – und gleichzeitig unsere Beziehungen verbessern –, wenn wir öfter einfach nur zuhören würden, statt währenddessen innerlich schon zu bewerten, zu planen und an möglichen Erwiderungen zu feilen. Denn tiefes Zuhören bringt uns nicht nur dem anderen näher, sondern auch mehr zu uns selbst.
