
Ein weiterer Artikel in der Rheinpfalz, erschienen in Speyer. Artikel Lesen unter: LINK
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Als ich am späten Nachmittag am Kloster Neustadt angekommen bin, sah ich in der Ferne Bruder Olav, den Abt des Klosters (bei den Herz-Jesu-Priestern wird diese Funktion „Rektor“ genannt). Er ging in entgegengesetzter Richtung von mir davon. Um diese Uhrzeit war ich bei ihm angekündigt und wusste, dass er gleich in die Krypta gehen würde, um einen Gottesdienst vorzubereiten. Ich wollte ihn unbedingt vorher noch abpassen. Da ich nach den 16 km über die Kalmit aber zu müde war, um ihm mit vollem Gepäck hinterherzulaufen, und auch nicht einfach nach ihm rufen konnte, blieb mir in meiner Not nichts anderes übrig, als zu pfeifen. Das hat gewirkt. Verwundert drehte er sich um – und nahm es mit Humor, dass man sich auf diese Weise seine Aufmerksamkeit sucht.
Ich hatte mich sehr auf die Begegnung mit ihm gefreut. Schon im Frühjahr hatte ich ihn kennengelernt, als ich mit einer Gruppe für eine Nacht im Kloster war. Wir waren damals vier Tage auf dem Jakobsweg unterwegs und haben verschiedene Achtsamkeitsübungen praktiziert, um zu entschleunigen und ganz im gegenwärtigen Moment anzukommen. Schon damals erzählte ich ihm von meinem Vorhaben, ein Jahr lang schweigend durch Deutschland zu wandern und den Menschen zuzuhören. Er war sichtlich angetan und bot mir sofort an, bei ihm Station zu machen, falls mein Weg durch die Pfalz führen würde. Kurz vor Projektstart schrieb er mir noch, dass ich „für ein Jahr in der Muttersprache Gottes unterwegs“ sein würde. Dieser Satz hat mich sehr berührt – und er bewegt mich bis heute.
Nach knapp zwei Monaten unterwegs, in denen ich viele Erlebnisse hatte, die man vielleicht als Zufall bezeichnen könnte, die mich aber in ihrer Häufigkeit und Intensität tief bewegt haben, war es mir ein Anliegen, an einen Ort zu kommen, an dem man sich tagtäglich mit Spiritualität auseinandersetzt. Mit Bruder Olav hatte ich den idealen Gesprächspartner. Er nahm sich viel Zeit, war neugierig auf meine Erfahrungen – und so habe ich in den Tagen im Kloster mehr Seiten auf meinem digitalen Notizblock gefüllt als je zuvor, um mich in irgendeiner Form mitteilen zu können.
Der Aufenthalt gab mir außerdem einen kleinen Einblick in das Gemeinschaftsleben der Mönche. Ich war nicht im Gästehaus untergebracht, sondern direkt im Kloster. Aufgewachsen in einer evangelischen Familie, habe ich zwar große Vorbehalte gegenüber der Institution Kirche, aber in diesem katholischen Kloster habe ich mich erstaunlich wohl gefühlt – sicher auch wegen der herzlichen Verbindung zu Bruder Olav.
Am Sonntag war ich von 13 bis 18 Uhr im Park, um zuzuhören. Die ersten 30 Minuten waren etwas überfordernd: Pressevertreter, Interviewanfragen, Besucher, die mir ihre Geschichten anvertrauen wollten, und ein Fotograf, der ständig um uns herumging. Mein erster Besucher ließ sich davon glücklicherweise gar nicht beirren und erzählte unbeirrt, was mich ebenfalls zur Ruhe brachte. Mit der Zeit konnte ich mich wieder ganz meinem Gegenüber widmen und das Außen ausblenden. Insgesamt waren sieben Personen da, und wie schon in Edenkoben, hatte ich in den fünf Stunden kaum zehn Minuten allein.
Besonders intensiv war es, weil ich parallel noch schriftliche Interviews mit zwei Journalistinnen führte. Dabei wollte ich sie bewusst aus ihrer Zuhörerrolle herauslocken und dazu bringen, auch von sich selbst zu erzählen. Das war für beide ungewohnt, doch schließlich haben sie sich eingelassen – und die Erfahrung, selbst gehört zu werden, hat ihnen spürbar gutgetan.
Am Tag meiner Abreise machte ich noch eine Dyade mit Bruder Olav. Ich hörte ihm zu, wie er seinen Weg zu den Herz-Jesu-Brüdern beschrieb – eine Frage, die ich ihm schon am ersten Tag gestellt hatte, aber für deren Antwort er am Vortag zunächst keinen Platz bei mir bekommen hatte. Am Ende segnete er mich, was für mich ein sehr besonderer Moment war. In meiner Kindheit erhielt ich jeden Morgen einen Segen, bevor ich zur Schule ging. In diesem Augenblick fühlte ich mich wieder wie dieses Kind, das hinausgeht in die Welt – mit dem Vertrauen, gut behütet zu sein bei allem, was da auf mich wartet.
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Nach einer herzlichen Verabschiedung von Barbara und Konrad machte ich mich auf die nächste Etappe. Diese Wanderung war ganz offiziell als Wandere mit mir ausgeschrieben und wurde in mehreren Zeitungen sowie vom Herrenhaus, dem Kloster Neustadt und dem Pilgerverlag angekündigt.
Die ersten zwei Kilometer war ich nur mit einer Begleiterin unterwegs, in St. Martin schlossen sich uns zwei weitere Frauen an. Angesichts der Hitze der vergangenen Tage – bis zu 35 °C im Schatten – wunderte es mich nicht, dass keine größere Gruppe kam. Im Gegenteil: Ich war überrascht, dass sich überhaupt Menschen auf den Weg machten, denn es stand die Überquerung des höchsten Berges der Pfalz mit rund 500 Höhenmetern bevor – bei diesen Temperaturen eine echte Herausforderung.
Bei diesen gemeinsamen Wanderungen geht es mir darum, dass wir den größten Teil der Strecke schweigend gehen. Unsere Aufmerksamkeit gilt dem Rhythmus des Gehens, der Natur und der Umgebung. Schritt und Atem finden nach einer Weile ihren eigenen Takt, Körper und Geist entschleunigen. So entsteht Raum für innere Ruhe und neue Wahrnehmungen.
Während der Pausen – oder manchmal auch während des Gehens – reiche ich einen „Redestab“ herum. Wer möchte, kann dann teilen, was ihn bewegt, welche Eindrücke die Stille hervorruft oder welche Gedanken auftauchen. Wer nichts sagen möchte, gibt den Stab einfach weiter, und wir setzen unseren Weg schweigend fort – ganz im Einklang mit der Natur.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig es braucht, dass Menschen zur Ruhe kommen und ganz bei sich ankommen. Auch dieses Mal war es so: Menschen, die sich zuvor nicht kannten, teilten sehr Persönliches miteinander. Das waren für alle berührende Momente – getragen von der Gemeinschaft und der besonderen Atmosphäre dieser Wanderung.
Vor 15 Jahren hatte ich ein Residenzstipendium im Herrenhaus Edenkoben. Später war ich noch zwei weitere Male für mehrere Wochen dort zu Gast. Mit Barbara und Konrad Stahl, den Gründern und Betreibern des Herrenhauses, hat sich über diese Aufenthalte eine freundschaftliche und enge Verbindung entwickelt. Als ich nun nach meiner Wanderung wieder dort ankam, hat es sich fast ein wenig wie „Heimkommen“ angefühlt – in dem Sinn, dass man sofort willkommen ist, alles vertraut wirkt und man das Gefühl hat, gar nicht weg gewesen zu sein.
Barbara und Konrad haben das Herrenhaus fast 40 Jahre lang betrieben. Zunächst zehn Jahre gemeinsam mit dem Land Rheinland-Pfalz, seit 1997 in privater Trägerschaft. Mehr als 300 Stipendiatinnen und Stipendiaten haben sie in dieser Zeit beherbergt. Ein wirklich privates Leben gibt es in solch einem Setting kaum – es ist ein Leben mit bildenden Künstlerinnen, Schriftstellern und Musikern, das den Alltag ganz durchdringt. Und sie sind dabei immer Gastgeber gewesen, wie man sie sich nur wünschen kann.
Schon bei meinem ersten Aufenthalt habe ich mich gefragt, wie sie das über so viele Jahre schaffen – dieses große Netzwerk, die Offenheit für immer neue Menschen, Geschichten und Abenteuer. Dazu kommt ihr Engagement in Bürgerinitiativen und in der Kultur außerhalb des Herrenhauses. Konrad war zudem viele Jahre Professor und Dekan an der Universität Mannheim. Wie also bekommt man all das unter einen Hut – und bleibt trotzdem so wunderbarer Gastgeber?
Die Antwort ist erstaunlich einfach: Sie sind geübt darin, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Wenn man als Gast bei ihnen ankommt, dann sind sie vollkommen bei einem – aufmerksam, präsent, zugewandt. Und wenn sie sich wieder ihren anderen Aufgaben widmen, sind sie ebenso ganz darin. Diese Fähigkeit, sich für den Moment ganz dem Gegenüber zuzuwenden, ist es, was man sofort spürt: Hier bin ich willkommen, hier werde ich gesehen.
Mein Aufenthalt hatte diesmal noch einen besonderen Aspekt: Barbara und Konrad haben an diesem Wochenende ihre letzten Stipendiaten empfangen. Ende des Jahres schließen sie das Herrenhaus für die Öffentlichkeit. Konrad ist über 80, Barbara geht auf die 80 zu – und doch merkt man ihnen das Alter kaum an, so aktiv wie sie sind. Damit geht eine Ära zu Ende. Umso schöner war es für mich, noch einmal dabei zu sein, wenn neue Künstlerinnen und Künstler ankommen – und zu erleben, wie herzlich ich selbst für den Tag meines Projekts aufgenommen wurde.
Auch die Begegnungen mit den Menschen, die mich an diesem Tag aufgesucht haben, waren besonders. Fünf Stunden lang saß ich im Schatten im Garten, und sieben Menschen haben mir ihre Geschichten anvertraut. Nur einmal hatte ich eine kurze Pause von 20 Minuten. Ansonsten reihten sich die Gespräche fast nahtlos aneinander – so, als wären die Begegnungen perfekt durchgetaktet, ohne dass jemand warten musste. Wieder so ein Moment, in dem ich mich fragte, ob das wirklich nur Zufall war.
Und selbst der Rasenmäher des Nachbarn oder die Soundchecks für ein Rockkonzert am Abend konnten diesen Tag nicht stören. Ich war so sehr bei den Menschen, dass all das an mir vorbeiging – und genau das hat wohl auch ihnen geholfen, ganz bei sich und bei unserer Begegnung zu bleiben.
Ich habe mich innerlich auf eine sehr entbehrungsreiche Reise eingestellt und werde nun überrascht, dass dem so nicht sein muss. Die Tage mit Flavia an den Seen haben mich auf den Geschmack gebracht. Dass ich von Ettlingen aus auf der linken Rheinseite Richtung Norden wanderte, verdanke ich einer Einladung von Bianca – sonst hätte ich diese Route durch die Rheinebene wohl nie gewählt. Eigentlich hatte ich geplant, direkt in den Pfälzer Wald zu gehen und mich dort bei dieser Hitze mit schwerem Gepäck über die Berge zu schleppen. Zum Glück kam es anders.
Die Rheinebene hat mich überrascht. Täglich kam ich an mehreren Badeseen vorbei und konnte mich mindestens ein- bis zweimal am Tag nach den Strapazen im Wasser abkühlen. An einem besonders einsamen See fand ich sogar ein kleines Paradies, an dem ich am Abend ungestört mein Zelt aufschlagen konnte. Mehr Urlaubsfeeling hätte ich mir kaum erträumen können.
Dazu kommen Einladungen wie die mit Bianca, die alles aufgetischt hat, was sie konnte, sodass ich mich nach einem langen Wandertag wie ein König fühlte. Herzlichen Dank dafür Bianca! Aber auch unterwegs wurde ich von der Natur verwöhnt: am Wegesrand wachsen Sträucher voller Brombeeren, auf vernachlässigten Streuobstwiesen reifen die ersten zuckersüßen Äpfel, und Mirabellen werden zum Nachtisch gereicht.
Auch wenn die Sonne oft brennt, lässt es sich wunderbar leben. Im Schatten der Bäume sind die Temperaturen gut auszuhalten. Nur wenn der Weg über Asphalt führt und sich zwischen aufgeheizten Häuserzeilen entlangzieht, sehne ich mich zum nächsten Waldstück oder Baggersee. Ich weiß, dass dieser Sommer nicht ewig dauern wird – vielleicht genieße ich ihn gerade deshalb umso mehr.
Viele haben schon den Wunsch geäußert, mich für einen oder mehrere Tage auf meiner Tour zu begleiten – und einige sind auch bereits mitgelaufen. Flavia hingegen zeigte während der Vorbereitungen zu meinem Projekt nie großes Interesse, wenn ich ihr vorschlug, mich im Sommer ein Stück zu begleiten. Meist kam ein „Mal schauen“ oder „Ich weiß nicht, ob ich darauf Lust habe“.
Umso mehr hat es mich gefreut, dass sie nun tatsächlich zwei Tage lang mit mir von Ettlingen in die Pfalz gewandert ist. Zugegeben, es lag wohl nicht nur daran, dass sie ihren schweigenden Ehemann begleiten wollte. Auf dieser Etappe lagen mehrere wunderschöne Baggerseen – und die Aussicht auf eine Mischung aus Wandern, erfrischendem Bad und bestem Sommerwetter hat sicher ihren Teil zur Entscheidung beigetragen.
Vorab hatten wir beide ein wenig Bedenken, ob das gut funktionieren würde – oder ob es nicht vielleicht auch anstrengend sein könnte, wenn einer schweigt. Am Ende haben wir jedoch zwei wunderbare Tage miteinander verbracht. Nach ihrem 50. Geburtstag war das ein weiteres gutes Zeichen, das mich sehr optimistisch auf das kommende Jahr blicken lässt – auch in Bezug auf unsere Beziehung. Und mit etwas Glück, gutem Wetter und ein paar Badeseen unterwegs ist die Chance gar nicht so gering, dass sie mich noch einmal ein Stück begleitet.
Bistumszeitung Der Pilger, am 3.8.25. Artikel lesen unter: LINK